G-BA reicht Klage ein: BMGS-Richtlinie zur Enteralen Ernährung - Generalindikation versus medizinisch und ethisch verantwortungsvoller Regelung
Siegburg, 27. September 2005 – Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) wird gegen die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) ausgesprochene Beanstandung und die im Wege der Ersatzvornahme erlassene Richtlinie zur Enteralen Ernährung klagen. Auf dieses Vorgehen haben sich die Mitglieder des Ausschusses in ihrer vergangenen Sitzung verständigt.
„Die Klage zum jetzigen Zeitpunkt hat keine aufschiebende Wirkung. Damit ist sichergestellt, dass die rechtliche Auseinandersetzung zwischen BMGS und G-BA zur Verordnungsfähigkeit künstlicher Ernährung nicht auf dem Rücken der Versicherten ausgetragen wird“, betont Rainer Hess, Vorsitzender des G-BA. „Ab dem 1. Oktober 2005 werden somit die durch die Ersatzvornahme des BMGS geregelten Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung der Krankenkassen zunächst wirksam.“
„Die Ersatzvornahme des BMGS“, so Hess weiter, „hat aber medizinisch, ethisch und rechtlich problematische Konsequenzen, die nach Auffassung des G-BA einer rechtlichen Überprüfung unterzogen werden müssen. Der Nutzen Enteraler Ernährung, die nicht mit einer Basisversorgung zu verwechseln ist, kann für viele Indikationen wissenschaftlich nicht belegt werden. Daher führt die fehlende Definition der medizinischen Notwendigkeit in der Ersatzvornahme zu Unsicherheiten bei Ärzten und Patienten, wann Enterale Ernährung verordnet werden soll – mit weit reichenden Folgen insbesondere für den Pflegebereich. Die Industrie bewirbt die Ausweitung der Verordnung von künstlicher Ernährung in einer Situation, in der schon jetzt 70 Prozent der über eine Sonde ernährten Patienten Heimbewohner sind, bei denen diese Maßnahme häufig medizinisch nicht notwendig ist. Dies steht nicht nur in krassem Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht der Patienten, sondern beeinträchtigt auch deren Gesundheit.“
Anstelle einer Klage haben die Patientenvertreter vorgeschlagen, den möglichen medizinisch nicht begründbaren Mengenausweitungen durch Qualitätssicherungsmaßnahmen zu begegnen. Solche Qualitätssicherungsmaßnahmen seien notwendig, bedürften jedoch – so Hess – gerade der vom G-BA beschlossenen, vom BMGS mit seiner Ersatzvornahme aber beseitigten Indikationsvorgaben.
Zum Hintergrund:
Das Gesetz sieht eine Ausnahmevorschrift vor, nach der Enterale Ernährung nur in medizinisch notwendigen Fällen bei konkret zu benennenden Indikationen zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verordnet werden kann. Das Gesetz legt hier eine größtmögliche Zurückhaltung an den Tag, da es die ethische und medizinische Problematik einer unkontrollierten Ausweitung dieser „Behandlungsmethode“ im Blick hat.
Der damals noch zuständige Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen hat diesen Auftrag einer Ausnahmeregelung für eine vom Gesetzgeber gewollte Leistungseinschränkung angenommen und verantwortungsvoll in einer Richtlinie ausgefüllt. Diese erste Formulierung einer solchen Vorschrift im Jahr 2002 wurde beanstandet mit dem Hinweis einer fehlenden fachlichen Begründung. Der Bundesausschuss hat diesem Anliegen entsprochen und mit großem Aufwand und unter Mitwirkung von Patientenvertretern für die einzelnen Regelungen eine dem Stand der Erkenntnis entsprechende wissenschaftliche Begründung erarbeitet.
Um mögliche Einsprüche der Öffentlichkeit und insbesondere der künstliche Ernährung herstellenden Industrie gegen diese Regelung aufzufangen, hat das Ministerium im Dezember 2003 die Durchführung einer weiteren Anhörung eingefordert. Die im Rahmen des Anhörungsverfahrens eingegangenen Stellungnahmen wurden vom G-BA ausgewertet, das Auswertungsergebnis ist in die Formulierung des am 15. Februar 2005 vorgelegten Richtlinienentwurfs eingeflossen.
Der Richtlinienentwurf wurde trotz der erfolgten Überarbeitung vom BMGS am 27. April 2005 erneut beanstandet. Die mit dieser Beanstandung verbundenen Maßgaben des BMGS standen dabei diametral zum Inhalt der Arbeit der Fachexperten des G-BA, so dass eine Umsetzung dieser Maßgaben durch den G-BA abgelehnt wurde. Das BMGS hat inzwischen den Richtlinienentwurf des G-BA durch eine eigene Richtlinie ersetzt: Die „Ersatzvornahme“ vom 25. August 2005. Diese sieht insbesondere eine Generalindikation für künstliche Ernährung als medizinische Maßnahme vor ohne Definition der medizinisch notwendigen Voraussetzungen. Vor diesem Hintergrund sieht sich der G-BA auch im Sinne der behandelnden Ärzte und betroffenen Patienten verpflichtet, wie bereits am 19. Mai 2005 der Öffentlichkeit mitgeteilt, gegen die Ersatzvornahme zu klagen.