Ersteinschätzung in der Notfallversorgung: G-BA klagt gegen Beanstandung der Aufsicht
Berlin, 5. Oktober 2023 – Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat sich darauf verständigt, juristische Schritte gegen die Beanstandung des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) an seinem Richtlinien-Beschluss zur Ersteinschätzung in der stationären Notfallversorgung einzulegen. Das BMG hatte als Aufsichtsbehörde Kritik am G-BA-Beschluss vom 6. Juli 2023 geübt und ihn als „rechtswidrig“ eingestuft.
Die neue Richtlinie regelt qualitative, personelle sowie organisatorische Details für ein neues Verfahren im Umgang mit Hilfesuchenden in Notaufnahmen von Krankenhäusern. Ziel ist es, Hilfesuchende entsprechend des konkreten medizinischen Bedarfs entweder in die ambulante oder stationäre Versorgung zu lenken. Ohne eine rechtliche Freigabe des Beschlusses durch die Aufsichtsbehörde kann die neue Richtlinie nicht in Kraft treten. Die angestrebte Entlastung der Notaufnahmen der Krankenhäuser kommt damit nicht zum Tragen.
Prof. Josef Hecken, unparteiischer Vorsitzender des G-BA, zu einigen Punkten der beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg angestrebten Klage gegen die Beanstandung durch das BMG: „Für mich sind vier Bereiche ausschlaggebend, um gegen die Beanstandung der Rechtsaufsicht juristisch vorzugehen: Erstens legt das BMG die Vorgaben zum Auftrag an den G-BA, ein Ersteinschätzungsverfahren bei Notfällen zu regeln, fehlerhaft aus. Zweitens übt das BMG seinen aufsichtsrechtlichen Ermessensspielraum nicht oder fehlerhaft aus. Drittens sieht das BMG den G-BA fälschlicherweise in der Pflicht, Vergütungsfragen bei Krankenhausleistungen zu regeln. Für Vergütungsfragen ist aber nicht der G-BA verantwortlich, sondern andere Teile der Selbstverwaltung. Und viertens überschreitet das BMG seine aufsichtsrechtlichen Kompetenzen. Das BMG geht aus meiner Sicht weit über eine rechtliche Prüfung hinaus, wenn die fachlichen Lösungen des G-BA durch eigene fachliche Erwägungen und Beurteilungen ersetzt werden sollen.“
Hecken weiter: „Für die Behauptung der Rechtsaufsicht, die Regelungen der G-BA-Richtlinie würden die Patientensicherheit gefährden, sehe ich keinen inhaltlichen Bezug. Schon heute ist die Frage nach dem medizinischen Bedarf der Hilfesuchenden und damit nach der Dringlichkeit einer Behandlung für Mitarbeitende in Notaufnahmen leitend. Denn nach gesetzlichen Vorgaben sollen Krankenhäuser nur im Notfall in Anspruch genommen werden. Das Einordnen von Hilfesuchenden in verschiedene Gruppen mit unterschiedlichem Behandlungsbeginn ist also etablierte und originäre ärztliche Aufgabe. Sie gefährdet die Patientensicherheit keineswegs, wie die Rückmeldung des BMG zum Beschluss suggeriert. Schon heute basiert das Arbeiten in Notaufnahmen auf einem Qualitätsmanagement mit geregelten Zuständigkeiten, organisierten Prozessen und Eskalationsinstanzen sowie einem etablierten Fehlermanagement. Deshalb setzt das stufenweise Vorgehen, das in der Richtlinie für die Umsetzung des Ersteinschätzungsverfahrens vorgesehen ist, auf der derzeitigen Praxis in Krankenhäusern auf. Anders als das BMG meint, würde gerade der Verzicht auf die gestufte Einführung der verschiedenen Bausteine der Ersteinschätzung eine geordnete Umsetzung in die Abläufe der Krankenhäuser verhindern – und das würde dann tatsächlich zu einer nicht hinnehmbaren Gefährdung der Patientensicherheit führen.“
Rechtlich nicht haltbar ist für Hecken auch die Kritik des BMG, Hilfesuchende, die mit einem Rettungswagen zur Notaufnahme eines Krankenhauses gebracht werden, seien vom Regelungsauftrag an den G-BA nicht umfasst. „Der Rettungsdienst ist keine Behandlungsebene, sondern lediglich ein Instrument, um Patientinnen und Patienten zur ärztlichen Behandlung zu bringen. Wenn 50 Prozent der Patientinnen und Patienten, die mit dem Rettungsdienst in die Notaufnahme kommen, diese wieder zu Fuß und ohne lebensbedrohliche Symptome verlassen können, wird klar, dass auch hier eine standardisierte und strukturierte fachliche Sicht geboten ist“, so Hecken.
Die komplette Stellungnahme(PDF 218,04 kB) des G-BA zur Beanstandung der Ersteinschätzungs-Richtlinie durch das BMG ist auf der Website des G-BA veröffentlicht.
Hintergrund: Auftrag Ersteinschätzungsverfahren und Aufgabenteilung zwischen G-BA und BMG
Gesetzliche Grundlage des Beschlusses zum Ersteinschätzungsverfahren ist § 120 Absatz 3b SGB V. Danach hat der G-BA Vorgaben zur Durchführung einer qualifizierten und standardisierten Ersteinschätzung des medizinischen Versorgungsbedarfs von Hilfesuchenden zu beschließen, die sich zur Behandlung eines Notfalls an ein Krankenhaus wenden.
Das BMG hat gemäß § 94 Abs. 1 SGB V in seiner Funktion als Rechtsaufsicht die Kompetenz, die Richtlinienbeschlüsse des G-BA rechtlich zu prüfen und zu beanstanden. Das BMG prüft, ob sich der G-BA im Rahmen seiner Rechtsetzungskompetenzen bewegt und ob die festgelegten Schritte bis zum Beschluss eingehalten wurden.