Presse­mit­teilung | Arznei­mittel

Hundertster Wirkstoff in der frühen Nutzen­be­wertung steht an

AMNOG im vierten Jahr: Anerkanntes Verfahren, routinierte Prozesse, transparente Bewertungen

Berlin, 18. Dezember 2014 – Zur demnächst anstehenden hundertsten Bewertung von Arznei­mitteln im Verfahren der frühen Nutzen­be­wertung erklärte der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundes­aus­schusses (G-BA), Josef Hecken, heute in Berlin:

„1. AMNOG kein Sonderweg

Zum Jahresende 2014 ist das Gesetz zur Neuordnung des Arznei­mit­tel­marktes (AMNOG) seit vier Jahren in Kraft. Neu zugelassene Arznei­mittel werden in Deutschland seitdem grundsätzlich einer Nutzen­be­wertung unterzogen. Damals wurde in der öffent­lichen Diskussion von manchen der Eindruck erweckt, die frühe Nutzen­be­wertung neuer Wirkstoffe sei ein deutscher Sonderweg und gefährde den Wirtschafts­standort Deutschland durch eine zusätzliche Belastung pharma­zeu­tischer Unternehmen. Das Gegenteil war der Fall: Schon vor Einführung des AMNOG gab es in wichtigen und großen Arznei­mit­tel­ab­satz­märkten Nutzen­be­wer­tungen, die zum Teil sogar – anders als beim AMNOG – eine Bewertung und Preisver­ein­barung als Marktzu­gangs­vor­aus­setzung definieren. Derzeit wird in den USA über die Einführung eines Nutzen­be­wer­tungs­ver­fahrens diskutiert.

Grafik 1 AMNOG

2. Verfahren stabil und kein Widerspruch zur Zulassung

Das Verfahren der frühen Nutzen­be­wertung von Arznei­mitteln – dies lässt sich nach vier Jahren Praxis sagen – ist etabliert und stabil. Die frühe Nutzen­be­wertung kollidiert auch nicht mit der arznei­mit­tel­recht­lichen Zulassung, denn sie überprüft anders als diese nicht die Sicherheit, Wirksamkeit und Qualität neuer Wirkstoffe, sondern die versor­gungs­re­levante Fragestellung, ob ein neuer Wirkstoff eine Überle­genheit gegenüber der in der Praxis eingeführten zweckmäßigen Vergleichs­therapie nachweisen und deshalb als Innovation einen höheren Preis beanspruchen kann.

Grafik 2 AMNOG

Grafik 3 AMNOG

3. AMNOG erfüllt seinen Zweck

In dieser Zeit hat der G-BA für rund 100 Arznei­mittel die entspre­chenden Bewertungs­ver­fahren abgeschlossen. In 21 Prozent der Fälle wurde in der Bewertung ein beträcht­licher Zusatz­nutzen ausgesprochen. Im Bereich der Onkologika waren es sogar 43 Prozent in dieser Nutzen­ka­tegorie. Ein geringer Zusatz­nutzen ergab sich bei 26 Prozent der Fälle. 8 Prozent gingen mit positiver Nutzen­be­wertung in der Stufe „Zusatz­nutzen nicht quanti­fi­zierbar“ in die Statistik ein. Damit konnten 55 Prozent aller Bewertungs­ver­fahren eine Überle­genheit des neu zu bewertenden Wirkstoffes gegenüber der zweckmäßigen Vergleichs­therapie zeigen. Zu beachten ist dabei jedoch, dass in vielen Fällen ein Zusatz­nutzen nicht für das gesamte Anwendungs­gebiet, sondern nur für Teilpo­pu­la­tionen ausgesprochen wurde. Damit bestätigen die Bewertungen die Erkenntnis, dass nicht alles was neu ist, auch automatisch besser als die zweckmäßige Vergleichs­therapie ist.

Grafik 4 AMNOG

Das AMNOG erfüllt insoweit in vollem Umfang seine Funktion, echte Innova­tionen von Schein­in­no­va­tionen und damit die „Spreu vom Weizen“ zu trennen und durch Subgrup­pen­bil­dungen dafür zu sorgen, dass Innova­tionen denjenigen Patien­ten­gruppen zu Gute kommen, die davon auch profitieren. Dass es entgegen mancher öffentlich geäußerter Kritik fachlich unumstritten ist, Subgruppen zu bilden, belegt der Umstand, dass in vielen Dossiers der Unternehmen ebenso wie in Zulassungs­studien schon solche Subgruppen gebildet werden, weil manche Wirkstoffe bei unterschied­lichen Patien­ten­gruppen in Abhängigkeit von Krankheits­stadien, Vortherapie oder genetischer Disposition auch unterschiedliche Wirkungen entfalten.

4. Überwiegende Mehrheit der Beschlüsse im Konsens der Bänke und Patien­ten­ver­tretung

Die Beschlüsse selbst wurden in den meisten Fällen in großer inhalt­licher und fachlicher Überein­stimmung getroffen. Es wundert daher nicht, dass 84 Prozent der Beschlüsse im Konsens der Bänke getroffen wurden und sogar 88 Prozent mit Zustimmung der Patien­ten­ver­tretung. Diese große Überein­stimmung bei den Bewertungen widerlegt eindrucksvoll das immer wieder vorgetragene Argument, die GKV habe ein zu starkes Gewicht in dem Verfahren, oder Patien­ten­in­teressen würden nicht hinreichend gewürdigt. Wenn sich bei der überwäl­ti­genden Mehrzahl der Bewertungen alle Bänke und die Patien­ten­ver­tretung in der Beurteilung einig sind, dann belegt dies, dass keine interes­sen­ge­leitete, sondern eine streng fachliche Bewertung auf der Basis vorhandener Evidenz erfolgt.

5. Externe Expertise hat hohes Gewicht

Das Verfahren der frühen Nutzen­be­wertung ist dabei alles andere als ein rein formales Beurtei­lungs­ver­fahren. Meinungs­plu­ralität, unterschiedliche Einschät­zungen von Experten, Fachge­sell­schaften und pharma­zeu­tischen Unternehmen haben ein großes Gewicht bei der Entschei­dungs­findung. So wurden in dieser Zeit 108 Anhörungen durchgeführt, bei denen mehr als 1.440 externe Teilnehmer zugegen waren. Darunter nahezu 870 Vertreter der pharma­zeu­tischen Unternehmen und knapp 250 Vertreter der Pharma­verbände. Ebenfalls als aktive und beteiligte Teilnehmer in den Anhörungen fanden sich in dieser Zeit 240 Vertreter der Ärzteverbände und mehr als 90 Vertreter der Fachverbände. Daneben wurden umfassende schriftliche Stellung­nahmen von diesen und weiteren im Verfahren beteiligten Personen und Gruppen in die Bewertungen einbezogen. Diese eindrucks­vollen Zahlen zeigen, dass sich das Bewertungs­ver­fahren nicht „unter Ausschluss der Öffent­lichkeit“ vollzieht, sondern nach der Veröffent­lichung der Dossiers des Instituts für Qualität und Wirtschaft­lichkeit im Gesund­heitswesen (IQWiG) eine sehr intensive fachliche Diskussion mit Unternehmen, Verbänden, Fachge­sell­schaften und Einzel­sach­ver­ständigen stattfindet. Besonders hervor­zuheben ist hier die wichtige Beteiligung der Arznei­mit­tel­kom­mission der deutschen Ärzteschaft, die in fast der Hälfte der Verfahren umfang­reiche Stellung­nahmen abgegeben hat. Sehr häufig haben die Ergebnisse der Stellung­nah­me­ver­fahren zu Nachbe­wer­tungen geführt; dies zeigt die hohe Relevanz des Stellung­nah­me­ver­fahrens.

In Vorbereitung der Dossie­rer­stellung durch die pharma­zeu­tischen Unternehmer bietet der G-BA Beratungs­ge­spräche an. Auch diese Gespräche werden gerne und mit wachsender Frequenz genutzt, um im Vorfeld auftretende Fragen seitens der Industrie zu klären. So verwundert es nicht, dass fast 260 solcher Beratungs­ge­spräche seit Einführung des AMNOG stattge­funden haben. Diese Fakten zeigen auch, welche immense Kraftan­strengung im G-BA täglich erforderlich ist, um die Verfahren ordnungsgemäß und rechts­sicher durchzu­führen.

Bei all der hier anzufüh­renden Kontinuität und Routine des Verfahrens, die sich in den letzten vier Jahren eingestellt hat, darf auch nicht vergessen werden, dass die frühe Nutzen­be­wertung nach AMNOG zwar in vielen anderen Ländern schon gang und gäbe ist, in Deutschland aber ein noch relativ junges Verfahren darstellt. Es ist daher im Sinne aller Beteiligten sicherlich richtig, wenn dieses Procedere nicht als statisches Konstrukt, sondern als lernendes System zu verstehen ist.

Nichts­des­totrotz ist es in allen bislang gefassten Beschlüssen immer gelungen, die Verfahren fristgerecht abzuschließen. Dies gilt umso mehr, als manche Wirkstoffe z.B. aufgrund eines Antrages des pharma­zeu­tischen Unternehmers, der beispielsweise neue Studien in die Bewertung einbringen wollte, oder aufgrund befristeter Beschlüsse mehr als einmal das Verfahren durchlaufen haben, was im Ergebnis dazu führt, dass die Zahl der Beschlüsse für die Bewertung des Zentners von Arznei­mitteln schon bei über 110 liegt.

6. Keine Gefährdung der Versorgung mit innovativen neuen Wirkstoffen

Im Zuge des AMNOG-​Verfahrens und der nachge­la­gerten Erstat­tungs­be­trags­ver­hand­lungen hat es bis heute neun echte Opt-​outs oder faktische Marktaus­tritte gegeben, durch die die Versorgung der Menschen mit innovativen Arznei­mitteln aber nicht gefährdet wird, weil in allen Fällen qualitativ hochwertige Verord­nungs­al­ter­nativen zur Verfügung stehen.

Grafik 5 AMNOG

Besonders wichtig ist auch, dass der G-BA bei einer Vielzahl von Beschlüssen für Ärzte, Apotheker und Patienten auch Hinweise zur qualitäts­ge­si­cherten Anwendung gegeben hat, die sehr wichtig sind, um bei hochwirksamen Produkten mit zum Teil komplexen Nebenwir­kungs­profilen eine sach- und fachge­rechte Anwendung zu gewähr­leisten.

7. Fortent­wicklung des lernenden Systems

Auch in Zukunft wird es Fortent­wick­lungen des AMNOG geben müssen, die Fragestel­lungen antizi­pieren, die sich aus den Verfahren neu ergeben: Wichtig ist es, insbesondere bei onkolo­gischen Wirkstoffen, die in den Studien häufig auf den Endpunkt „Lebens­ver­län­gerung“ ausgerichtet sind, in Zukunft mehr und bessere Daten zur Lebens­qualität der Patienten für die Bewertung zu haben.

Sorgfältig beobachtet werden muss der Umgang mit naturgemäß schwacher Evidenz bezogen auf Langzeit­wir­kungen bei neuen Wirkstoffen zur Behandlung chronischer Erkran­kungen, bei denen zum Zeitpunkt der frühen Nutzen­be­wertung solche Langzeitdaten noch nicht vorliegen können.

Diskutiert werden muss auch, wie völlig überzogenen „Einstands­preisen“ bei besonders teuren Arznei­mitteln, insbesondere Orphan Drugs während des ersten Jahres nach Marktzugang begegnet werden kann, ohne dass dadurch faktisch eine 4. Hürde entsteht. Letztlich muss auch weiter über eine stärkere Sanktio­nierung nachgedacht werden, die dann greift, wenn Unternehmen keine Dossiers zur Bewertung vorlegen oder die wesent­lichen Module fehlen, denn damit wird bewusst eine Bewertung durch den G-BA vereitelt.

Dies sind Fragestel­lungen zur Fortent­wicklung und Optimierung eines nach vier Jahren bewährten und stabilen Systems, das dem Grunde nach nicht mehr in Frage steht.“